Leseprobe

Vor der Veranda lag gleich der Strand, der hinausragte ins weite, offene Meer. In der Finsternis dieser Stunden konnte man aber nicht mehr erkennen wo der steinige Streifen aufhörte und das Wasser anfing. Nur das Rauschen der Wellen, das regelmäßige Geräusch, das entsteht, wenn die Wellen im Ufer auslaufen war zu hören. Selbst die Insekten verhielten sich ruhig.

Mit den Stunden kam Wind auf, und dem alten Mann wurde es zu kalt auf seiner Bank. Es war Zeit, den Tag zu beenden. Das Leben hier war einfach. Er kümmerte sich um seinen kleinen Garten und um die Schiffe, die sich gelegentlich zu diesem einsamen Hafen verirrten. Keiner in diesem Dorf war besonders reich, doch alle hatten genügend zu Essen und ein Dach über dem Kopf. Er stand auf, streckte sich und hörte, wie die alten Knochen klackerten und knackten, während er sich aufrichtete. Noch einmal atmete er durch, roch die frische Luft der jungen Nacht und sah sich um.

Wenige Mannslängen hinter seinem Haus lag der alte Brunnen. Der Ort, an dem sich vor so vielen Jahren alles verändert hatte. An diesem Abend war es so dunkel, dass man sein Leuchten wahrnehmen konnte. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass die Innenseiten der Brunnenmauer heller als die Umgebung schimmerten. Die Tiefe des Brunnens war beachtlich, und einst war er der Ausgangspunkt einer unermesslichen Tragödie.

Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen, ein unschuldiges Kind, dessen Zukunft als Bauer in der entlegensten Provinz hart und entbehrungsreich werden sollte. Niemand hatte Geld, die Kinder zur Schule gehen zu lassen, vom hehren Ziel dieser gesegneten Welt hörte man damals nur aus Legenden und Erzählungen.

Doch eines Tages stand sie hier. Eine wunderschöne junge Frau mit bläulichen Flügeln, grazil und beinahe zerbrechlich, aber mit einem starken Willen, wie er ihn noch nie zuvor an einer Frau gesehen hatte.

Sie kam aus dem Brunnen gestiegen und erzählte den Bewohnern der Provinz von einer anderen Welt. Einer Welt, die auf eine Weise genau so war wie Parmacia, aber in der es allen gleich gut ging. Sie motivierte die armen Leute der Insel, gegen die Mächtigen vorzugehen, und sie wagte es, die Dinge auszusprechen, die niemand auszusprechen vermochte.

Mit den Jahren wurde sie die Anführerin dieser wenigen Inseln, und durch die Schiffe, die noch regelmäßig an den Häfen anlegen durften, verbreitete sich die Kunde in ganz Parmacia.

Nach und nach reiste sie umher und sprach von Gleichheit, von Wohlstand und davon, dass eine Welt auch geführt werden konnte, ohne dass ein hoher Wächter sagte, was eines jedermann Rolle in der Welt zu sein hatte.

Sie zweifelte Joston an. Und Joston reagierte. Er verurteilte sie des Hochverrats und forderte sie auf, in seine Stadt zu kommen um sich der Vollstreckung zu stellen. Doch sie kam nicht. Und alle, die ihren Worten glaubten, kämpften für sie.

Es gab einen schlimmen Krieg und schließlich brannten zuerst die Städte, dann die Dörfer, dann die einzelnen Höfe. Selbst er als Kind hatte damals an seinen sicheren Tod geglaubt.

Doch Joston zeigte Gnade. Er beendete die Kämpfe und forderte erneut den Kopf der Frau, die so schöne Worte hatte sprechen können. Immer noch wollten sie ihre Anhänger nicht gehen lassen, doch sie opferte sich.

Die Welt, in welcher der alte Mann lebte, durfte fortan nicht mehr existieren. Anderswo, so hörte er, wäre es noch schlimmer gewesen.

Doch was sollten diese alten Erinnerungen, was sollten die Gedanken an Dinge, die er nur unscharf und dunkel vor seinem geistigen Auge sehen konnte? Nun waren die Dinge anders. Und statt eines Lebens als Lehensbauer in den strengen Gesetzen von Joston konnte er das tun, was er gern tun mochte. Er hatte lesen und schreiben gelernt, und er bekam eine Aufgabe, in der sein Ordnungssinn gebraucht wurde.

Außer ihm konnte sich sowieso niemand mehr an die Existenz der jungen Frau erinnern. Er war der älteste Mann weit und breit, und auch wenn er schon zuweilen vergesslich wurde, zählte er seine Lenze noch.

Fünfhundert. Fünfhundert Jahre war er alt geworden in diesen Tagen. Und nur er hatte sie noch gesehen, wie sie vor den Menschen stand, so voller Entschlossenheit. So voller Überzeugung.

Er hatte sie gesehen, die sterbenden Leute, die brennenden Häuser, die verendenden Tiere. Und er würde ihren Namen nie vergessen.

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